Ethem Koçer
„Wenn ich keine Arbeitsgenehmigung für München erhalten hätte, wäre ich nach England oder Frankreich gegangen.“
Ethem Koçer wurde 1934 in Beypazari in der Nähe von Ankara geboren. Er machte eine Schneiderlehre und baute sich in Polatli ein eigenes Geschäft auf. Seine Kunden zahlten nur in Raten, und als es 1964 schlechte Ernten gab, konnten die Bauern ihre Rechnungen für die Anzüge nicht mehr begleichen. Seine eigenen Schulden beim Großhandel in Istanbul musste Ethem über einen Kredit abzahlen. Als er diesen nicht mehr bedienen konnte, entschied er sich, sein Geschäft zu verkaufen und nach Deutschland zu gehen.
Am Sonntag, dem 2. Mai 1965, traf Ethem Koçer nach 48 Stunden Zugfahrt in München ein. Er kam nicht als „Gastarbeiter“, sondern besuchte mit einem Touristenvisum einen Freund. Es gelang ihm, auch ohne den Status als angeforderte Arbeitskraft eine Arbeitsgenehmigung zu erhalten. Ethem wollte ursprünglich nur vorübergehend in Deutschland arbeiten, doch dann lernte er hier eine Frau fürs Leben kennen, er verliebte sich, heiratete 1971 und blieb für immer. Die Familie seiner deutschstämmigen Frau hatte zwar zuerst Vorbehalte gegen den türkischen Schwiegersohn, doch dies legte sich mit der Zeit. Seine Deutschkenntnisse erwarb Ethem vor allem mithilfe von Schulfunksendungen im Bayerischen Rundfunk und durch Hörspiele.
Ethem Koçer war nach seiner Ankunft in München die ersten sechs Monate bei den Stadtwerken als Trambahnreiniger tätig, tagsüber arbeitete er als Zuschneider für eine Schneiderei, abends absolvierte er eine Weiterbildung zum Damen- und Herrenschneider und erwarb zwei Diplome. Nach der bestandenen Meisterprüfung eröffnete er 1972 ein eigenes Geschäft in der Klenzestraße. Hier fertigte er Damenkostüme und Herrenanzüge für verschiedene Modehäuser. 1980 wurde Ethem Abstecker und Verkäufer bei Kaufhof, 1990 Änderungsschneider bei Hirmer. Fünf Jahre später ging er in Frührente. Ethem Koçer lebt bis heute in München.