den weit verbreiteten und oft maßlosen Bierkonsum
beider Geschlechter. Die Aussage, die der Straubinger
Amtsarzt mit Blick auf Sonn- und Festtage traf, kann
tendenziell für alle bayerischen Landesteile geltend ge-
macht werden: „Bier wird wirklich in großer Masse
getrunken; Männer,Weiber, Kinder, alles trinkt gern
Bier.“
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Hoch im Kurs stand das Braunbier, das man als
bekömmlich und stärkend empfand,während man dem
billigerenWeißbier nachsagte, dass es Verdauungsprob-
leme und Krankheiten verursache. Eine interessante
Ausnahme verzeichnet der medizinische Rapport aus
dem schwäbischen Bissingen: „Bei Katholiken darf
braunes Bier in keiner Gemeinde fehlen.Weißes Bier
wird … vorzugsweise bei Protestanten getrunken … Es
wird dem weißen Biere von protestantischer Seite doch
wohl auch nur aus Sparsamkeit, nicht aus Liebhaberei
oder wegen seiner Güte der Vorzug gegeben.“
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Teilwei-
se kristallisierten sich in dieser Zeit bereits Hochbur-
gen des Bierkonsums heraus, wie die lokalpatriotische
Anmerkung des Nürnberger Physikus zeigt: „ImVer-
gleich mit Altbayern und besonders mit München ist
die Bierconsumption des Einzelnen eine mäßige. Die
strenge Arbeit der Hauptindustriezweige in Nürnberg
verlangt einen klaren Kopf und Gewohnheitstrinker,
resp. Säufer sind hier selten.“
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Der Bierkonsum in Bayern erreichte an der Wende
zum 20. Jahrhundert mit einem jährlichen Pro-Kopf-
Verbrauch von annähernd 250 Litern seinen histori-
schen Höchststand. Das Bewusstsein für die Risiken
hohen Alkoholkonsums war nur schwach ausgeprägt,
der Rausch wurde verharmlost. So genannte Rausch-
tafeln, wie sie in denWirtshäusern hingen, ließen die-
sen Zustand vielmehr als stufenweise planbares und
erstrebenswertes Ziel erscheinen: vom „Räuscherl“
zum „Viechrausch“.Kultstatus beanspruchte lange Zeit
§ 11: „Es wird fortgesoffen!“ aus den Biercomments der
Studentenverbindungen, dem man auch außerhalb
akademischer Kreise pflichtschuldig Folge leistete. Das
exzessive Biertrinken wurde auch auf unzähligen Jux-
undWerbepostkarten verherrlicht. Die Bildmotive be-
zogen sich in vielen Fällen auf die Bierstadt München,
deren Großbrauereien früher als andere stimmungsvolle
und zumTrinken animierendeWerbeartikel unter das
Volk brachten. Beliebte Bildmotive waren das Münch-
ner Ehepaar, das sich mit zunehmendem Biergenuss in
ein Paar ineinander verhakter Maßkrüge verwandelt,
oder die Frauenkirche, deren Zwiebeltürme aus einem
Biersee herausragen, in dem begeisterte Biertrinker
plantschen. Als Verkaufsschlager erwiesen sichTrinkur-
kunden im Ansichtskartenformat, auf denen die Gäste
der Bierpaläste die Anzahl der geleerten Maßkrüge
vermerken konnten, um vor den Daheimgebliebenen
mit ihrer Trinkfestigkeit zu prahlen.
DieVerklärung des Rausches spiegelt sich auch in volks-
kundlichen Abhandlungen wider. „Was ein altbayeri-
scher Bauernbursch oder Knecht an einem Kirchweih-
tage zu vertilgen vermag, ist staunenswert“, schrieb
etwa der Höchstädter Franz Josef Bronner (1860–1919)
im Jahr 1908: „Zwölf bis fünfzehn Maß Bier und vier
bis fünf Pfund Fleisch bieten ihm keine Schwierigkeit.
Er wird dabei nur aufgeräumter, lauter. Er juchzt und
schnackelt, und stampft mit den Stiefelstöckeln, dass
der Saalboden dröhnt.“ Auf den Alkoholkonsum zu-
rückzuführende Schlägereien gehörten laut Bronner
zum guten Ton: „Wenn in den nächsten Tagen dann
mancher auch mit blaugeschwollenemAuge oder ver-
bundenem Kopfe umherläuft, ist er gleichwohl der
Meinung: Lusti is gwen, und schö aa! Dös is heuer a
Kirtag wen, ’sell kann sich sehen lassen!“
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Während hier
hoher Bierkonsum als Zeichen besonderer Stärke und
unerschütterlicher Männlichkeit gefeiert wird, beäug-
ten die Lübecker Autoren von „Spemanns goldenem
Buch der Sitte“ insbesondere Bier trinkende Frau-
en höchst kritisch: „Dass in Bayern sehr viele Damen
Frühschoppen machen und außer dem Inhalt stattlicher
Maßkrüge ‚Weißwürste‘, ‚Dünn- resp. Dickgeselchte‘
und ‚Leberkäs‘ pfundweise in den zarten Mündchen
verschwinden lassen, ist eine bekannte Sache, aber keine
schöne Sache.“ Das Bier ruiniere „die schlanke Figur“
und „die Anmut und Grazie der Bewegungen“. Somit
sei es ein Gebot der Eitelkeit, als Frau auf ein Über-
maß an Bier zu verzichten. Und überhaupt locke ein
„Frauenmund, dessen Lippen mit Bierschaum garniert
sind, … nicht zum Kuß, und zu küssen ist, wenn auch
nicht gerade der einzige, so doch sicher der schönste
Beruf der Frau“.
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Die bereits in den Physikatsberichten angeklungene
Kritik am übermäßigen Bierkonsum wurde im Zuge der
seit den 1880er-Jahren aufstrebenden Enthaltsamkeits-
und Mäßigkeitsbewegung wieder lauter.Die bayerischen
Ableger von Organisationen wie dem „Deutschen
Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“, dem
„Guttempler-Orden“, dem „Alkoholgegnerbund“, dem
„Blauen Kreuz“ oder dem „Katholischen Kreuzbünd-
nis“ hatten jedoch „auf dem Boden alter, bierehrlicher
Tradition“ einen harten Stand,wie in einemVereinsbe-
richt beklagt wird. Man kämpfe mit allzu bescheide-
nen finanziellen Mitteln gegen das „Alkoholkapital“
und obwohl die Missstände allerorten greifbar seien,
übergieße die bayerisch-nationale Presse „die Sache
der Enthaltsamkeit fast wöchentlich mit Hohn und
Spott“.
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Selbst „Kuhhautzeitungen“, also Lokal- und
Regionalblätter,würden die Meldungen und Anzeigen
der Vereine nicht abdrucken, was der Chronist auf den
Einfluss des Brauerbunds zurückführte. In der ersten
Dekade des 20. Jahrhunderts stießen die Veröffent
05 Von Viechrausch und Bierherz
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