Münchner den Wienern jedoch haushoch überlegen
waren. Das beweist allein schon, dass Kaiser Franz Jo-
seph I. zum zweiten Frühstück ein kleines Glas Spa-
ten-Bräu zu sich zu nehmen pflegte, wobei zugegebe-
nermaßen eine Rolle gespielt haben mag, dass er mit
einer berühmten Bayerin verheiratet war.
Welche Rolle Marketing bereits spielte, erprobten und
erfuhren die Münchner Brauer bei ihren Auftritten
anlässlich der Weltausstellungen gewissermaßen auf
neuestem internationalem Niveau. Daraus gewannen
sie als eine der wichtigsten Erkenntnisse:
Bavaria sells!
Damit war gar nicht Bayern
gemeint, noch nicht einmal Altbayern, noch
nicht einmal Oberbayern, sondern nur das
oberbayerische Alpenvorland mit München.
Die Berge ziehen!
Im Industriezeitalter
verstand man sie als Ausdruck der heilen
Welt. Keine Fabrikschornsteine verschan-
delten hier das Bild – und wenn, hat man
sie sauber aus Postkarten und Plakaten
wegretuschiert.
Die Kopf-Idylle zieht!
In Bayern fand der zu
Wohlstand gekommene Städter seine Wurzeln,
das unverfälschte Leben, den urtümlichen,
wildernden, raufenden, fensterlnden, singenden,
jodelnden Volksstamm, in seiner Originalität
schön anzuschauen und in seiner Rückstän-
digkeit noch besser zu verspotten. Ins Reser-
vat gelangte man mit der Eisenbahn schnell,
gefahrlos und bequem.
Tracht sells!
Wer es sich leisten konnte,
kam in der reservatsüblichen Kleidung:
Das Berliner KaufhausWertheim eröffnete
bereits 1894 eine eigene Trachtenabteilung.
Gemütlichkeit sells!
Anlaufstelle für den
Besuch des Alpenreservats war München, das
den zivilisiertenVorgeschmack auf die Idylle
bot, die Gemütlichkeit im Zeitalter der Ner-
vosität in den legendären Biergärten, in denen
die Dienstboten neben den Kommerzienräten
bayerisch-liberal dem Nationalgetränk Bier
zusprachen.
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Die bayerische Trias von Bier, Idylle und Gemütlich-
keit war so erfolgreich, dass man über eine neue Form
der Großgastronomie nachdenken musste. Die alten
Münchner Gasthäuser waren trotz Renovierung oder
Erweiterung dem Ansturm kaum mehr gewachsen.
Man brauchte Platz für Hunderte, manchmal sogar
Tausende Gäste, in gewisser Weise eine multifunkti-
onale Groß- und Erlebnisgastronomie mit Gartenbe-
trieb, Kegelbahn, Bräustüberl, gehobenem Restaurant
und einem Festsaal als Bühne für Musik,Theater,Va-
rieté und – ein unheilvolles Omen werfend – für die
Politik. Aber welcher Architekt konnte dieses revoluti-
onäre Konzept realisieren? Die Familie Sedlmayr musste
nicht weit suchen: die Neffen Seidl, vor allem Gabriel
von Seidl (1848–1913), übernahmen die Aufgabe.
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Mit
einem hoch renommierten „Mitarbeiterstab“ um die
Künstler Franz von Lenbach, Lorenz Gedon, Franz von
Seitz und dem schon erwähnten Otto Hupp wurde der
Architekturtyp Bierpalast geschaffen – mit Rückgriff
auf die als deutsch empfundene Renaissance und ei-
ner besonderen bayerischen Note der Bürgerlichkeit,
Harmonie, Gemütlichkeit und Volksnähe.
Am Anfang stand der Arzbergerkeller 1882, es folg-
ten Hofbräukeller, Münchner-Kindl-Keller – mit
6000 Plätzen der größte Bierpalast – Löwenbräukeller,
Franziskanerkeller, Spatenkeller, Augustiner, Pschorr-
bräu,Thomasbräu, allesamt architektonisch anspruchs-
volle Gebäude mitTürmen,Giebeln,Terrassen, Loggien,
stadtbildprägend und werbewirksam mit Festsälen um
1000 Quadratmeter und relativ kleinen Bierschwem-
men mit volkstümlichem Charakter. Arzbergerkeller
und Löwenbräukeller erhielten 1882, im Jahr der gro-
ßen „Electrizitätsausstellung“ im Glaspalast, bereits
elektrisches Licht, während der Hauptbahnhof die-
se Innovation erst 1884 mit zweijähriger Verspätung
nachvollzog.Weitere Bierpaläste folgten als Münchner
Dependancen in Straßburg, Stockholm, Aachen oder
Basel. Die internationale Anerkennung hierfür erhielt
das Seidl-Team auf der Weltausstellung in Chicago 1893
mit der Gestaltung des Repräsentationssaals des deut-
schen Hauses. Für den Plafondschmuck schuf Lenbach
neun Bilder, Hupp die dekorative Malerei.Vorbild für
die Gesamtdarstellung war – vermutlich eine Idee von
Seitz – der Saal der Burg Trausnitz in Landshut.
Besondere Anerkennung erfuhr der Seidl’sche Bier-
palast in Berlin. Die Fachwelt war erstaunt über die
zurückgenommene Ausformung der Neorenaissance,
der die in Preußen übliche überbordende Ornamentik
fehlte.Der Bau hatte es überhaupt nicht notwendig,mit
Dekor zu protzen. Die schiere Größe mit drei Stock-
werken setzte ein unübersehbares Signal für die Bier-
und Kunststadt München. Auch im Inneren hielten
sich die Gestalter zurück, wobei das Echo darauf die
Kulturunterschiede zwischen Berlin und München
offenbart. Die Berliner Beschreibung vermeldete: „Im
Ganzen genommen bietet die architektonische Aus-
bildung des Innern nichts besonders Hervorragendes.
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bier in bayern