Die Aufhebung
 
Die folgenden Tage, Wochen und Monate erschienen Abt Klocker wie ein einziger, nichtendenwollender Alptraum. Denn nicht genug damit, dass er zusehen musste, wie sein Kloster und dessen Besitz Stück für Stück in weltliche Hände überging - mehr noch schmerzte ihn, dass mehrere Mönche ihm den Gerhorsam verweigerten und ihn als selbstgerechten Tyrannen beschimpften. Natürlich war Pater Benno Winnerl der Anführer ... Und Klocker litt unter der Feindseligkeit, die ihm der Kommissär entgegenbrachte. Freilich war er selbst daran nicht unschuldig. Denn, starrköpfig wie er war, wollte er sich mit dem Unvermeidlichen nicht abfinden und machte dem kurfürstlichen Beamten das Leben so schwer wie möglich. Noch am Tag ihrer ersten Begegnung kam es zu einer weiteren heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Ockel äußerte die Absicht, Möbel, Gemälde und Uhren aus Klockers Residenz zu beschlagnahmen. Klocker fuhr ihn an: "Das kommt überhaupt nicht in Frage!" "Warum nicht? Sie wissen, dass ich die Pflicht habe, alle Sachen von Wert zu vereinnahmen!""Wollen Sie zum Räuber werden? Diese Gegenstände habe ich von meinem Gelde erworben!" "Können Sie das beweisen? Haben sie Rechnungen oder Quittungen?"
"Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig!" "Sie sind unverschämt, Herr Abt!
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Ich werde mich höheren Orts über Sie beschweren!" "Tun Sie das immerhin! Raub bleibt dennoch Raub!" Tatsächlich beschwerte sich Ockel bei seiner vorgesetzten Behörde in München über Klocker; daraufhin wurde Klocker im April kurzerhand abgesetzt, noch bevor das Kloster endgültig aufgehoben war. Nun war er nur noch ungebetener Gast im eigenen Haus ... Wie ungebeten, das merkte er, als er sich im Juli zum letzten Male auflehnte. Ockel hatte ihm nämlich mitgeteilt, dass der Kurfürst nunmehr die Benediktbeurer Mönchsgemeinschaft aufgelöst habe. "Sie müssen sich entscheiden", hatte der Kommissär erklärt, "ob Sie Mönch bleiben oder aus dem Orden austreten wollen. Im ersteren Falle haben Sie sich in ein anderes Kloster zu verfügen, das Seine Druchlaucht Ihnen zuweisen wird."
Selbstverständlich hatte sich Klocker empört widersetzt: "In diesem Kloster habe ich meine ewigen Gelübte abgelegt. Nach der Regel des heiligen Benedikt bin ich lebenslänglich an diesen Ort gebunden. Ich werde also zum ersten Mönch bleiben und zum zweiten das Kloster nicht verlassen. Punktum!" Aber natürlich kam er damit nicht durch. Ockel drohte damit, ihn und ein paar Mitbrüder, die sich ebenso halsstarrig zeigten, durch Soldaten gewaltsam aus dem Kloster werfen zu lassen;
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aus München kam gar die Ankündigung, man werde ihn ins Gefängnis stecken, wenn er nicht gehorchen wolle. Da blieb nur eines: nachgeben. Am 31. Oktober 1803 verließ der kämpferische Abt Benediktbeuern für immer. Währenddessen war die Aufhebung des Klosters zügig vorangegangen. Bis Ende März wurde alles, was sich im Kloster befand, aufgelistet und geschätzt. Möbel, Kutschen, Pferde, Getreidevorräte und andere Mobilien wurden versteigert. Im April kam ein Fachmann, der Handschriften und Bücher nach ihrem Wert sortierte. Alles Wertvolle brachte man, zusammen mit Gemälden, Kupferstichen, Münzen und wissenschaftlichen Instrumenten, nach München. Die alte Pfarrkirche wurde abgerissen, die öffentlichen Gottesdienste fanden nun in der Abteikirche statt. Das Klosterland, das bisher von Bauern gegen Abgaben bewirtschaftet worden war, fiel an den Staat, ohne dass sich für die Pächter etwas änderte. Mönche und Klosterbedienstete erhielten Pensionen, sofern sie nicht eine andere Beschäftigung fanden. Dann wurden die Gebäude, Äcker und Wiesen zum Verkauf angeboten. Aber wer wollte sie schon haben? Überall im Land konnte man Klosterbesitz erwerben. Der war zwar spottbillig, aber für die ländlichen Bevölkerung immer noch zu teuer. Doch was sollte zum Beispiel ein reicher Münchener mit einem Kloster anfangen?
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Schließlich kaufte ein Industrieller die Klostergebäude und richtete dort seinen Betrieb ein. Im alten Benediktinerkloster wurde nun Glas hergestellt. Abt Klocker zog sich verbittert und enttäuscht nach München zurück. Zwar versüßte ihm der Staat seinen Vorzeitigen Ruhestand mit einer stattlichen Pension, aber was wog das schon gegen das Gefühl, einen solchen Kampf verloren zu haben - den Kampf um sein Kloster, den er, so glaubte er fest, für Gott geführt hatte? Karl Klocker hatte keine rechte Freude mehr am Leben. Im Juni 1805 erkrankte er schwer und starb bald darauf.
Ägidius Jais machte Karriere als Hochschulprofessor und brachte es bis zum Rektor der Universität Salzburg. Innozenz Ladurner starb als Pensionär in Benediktbeuern, wo er zu Miete wohnen bleiben durfte, ebenso wie Waldram Jocher. Der jüngste Mönch, Aloys Buchner, war erst Pfarrer, dann Professor und schließlich Domkapitular in Passau.
Und Benno Winnerl? Dem erging es recht gut. Nach Beginn der Säkularisation hatte er sich schnell vom treuen Diener des Klosters zum treuen Diener des Staates gewandelt und bei der Aufhebung kräftig mitgeholfen. Zum Dank dafür wurde er noch 1803 zum Pfarrer der Gemeinde Benediktbeuern ernannt; 1815 erhielt er die gutbezahlte Stelle des Stadtpfarrers von Wasserburg. Das war das Ende Benediktbeuerns.
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Er wird sich wohl nicht nach dem Klosterleben zurückgesehnt haben. Das Ende? Niemand hätte damals geglaubt, dass es dort jemals wieder ein Kloster geben würde. Aber mehr als ein Jahrhundert später kaufte ein anderer Orden die Gebäude. Seitdem herrscht in Benediktbeuern wieder reges klösterliches Leben. Und eine Säkularisation brauchen die Patres nicht mehr zu fürchten! Sicherlich war das ein schändliches Treiben in St. Veit. Aber warum führen Sie nicht all jene Klöster an, in denen tadellose Zustände herrschen? Warum nicht Benediktbeuern, Andechs, Herrenchiemsee, Oberaltaich, Tegernsee und wie sie sonst noch heißen? Wie können Sie es wagen, den unglücklichen Weinberger zu nennen, den einzigen Fall, den einzigen, sage ich, wo jemand den Anforderungen des Klosterlebens nicht gewachsen war? Warum nennen sie nicht die Tausenden von Brüdern, die ihr ganzes Leben lang Gott treu und fromm gedient haben? Ich will Ihnen sagen, warum Sie so und nicht anders reden: Sie wollen Unrecht zu Recht machen, Sie wollen Ihren lästerlichen Maßnahmen gegen Gottes Klöster das Mäntelchen der moralischen Rechtfertigung umhängen. Das und nichts anderes ist Ihre wahre Absicht!" Schwer atmend ging Klocker auf seinen Platz zurück. Doch auch um Ockels kühle Gelassenheit war es nun geschehen. mit diesem zornigen Abt war wirklich nicht zu reden!
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"Ich sehe, Sie wollen sich nicht überzeugen lassen, Hochwürdiger Herr", rief er erbost. "Schon immer hat es einsichtige Geistliche gegeben, die eine Kirche ohne Macht und Reichtum forderten. Sie gehören leider nicht zu diesen Einsichtigen. Sie gehören zu den Kirchenmännern, denen Macht mehr bedeutet als Gott!" Klocker war sprachlos. War dieser Kommissär so bösartig, oder hatte er ihn so mißverstanden? Er, Klocker, hatte jedenfalls keine Kraft mehr zu disputieren. Er, Klocker, streckte die Waffen. Er erhob sich mühsam, wie unter einer schweren Last, aus seinem Sessel und sagte leise: "Tun Sie, was Sie für Ihre Pflicht halten. Und möge Gott Seiner Durchlaucht und Ihnen verzeihen!" Ockel entgegnete kühl: "Möge er auch Ihnen verzeihen, Herr Abt. Sie bitten, mir die Bücher vorzulegen; im Namen Seiner Durchlaucht, des Allergnädigsten Herrn Kurfürsten, beginne ich nunmehr, die Auflösung der Abtei Benediktbeuern zu vollziehen."
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