Historische Wirtshäuser -> Bräustüberl zur Kanne
Bräustüberl zur Kanne in Weißenburg
Ganz Bayern ein Land hoch in den Himmel aufragender trutziger Bierburgen und urigknorrigen Wirtshäuser? Im common sense auswärtiger Betrachter sicher nicht! Nach gängiger Ansicht gelten vielmehr Oberbayern und die Alpenregion als Schauplatz für die Stein gewordene Allegorie bayerischer Gastlichkeit. Hier würden sie zu finden sein, die verheißungsvollen Tempel leiblicher und auch geistiger Sättigung, da in Bayern einem Wirtshaus mindestens die gleiche soziale Funktion wie einem Wiener Kaffeehaus zugesprochen werden kann. Ähnlich wie in Berlin im Romanischen Café oder in Wien im Hawelka trafen sich hier Literaten und Filmleute. Hätte Mark Twain diese Sphäre in ähnlicher Intensität wie die Schweiz bereist, wäre ihm sicher aufgefallen, wie hier in vielschichtiger Weise Humanität geübt und – wenn gewollt – handgreiflich verübt werden kann. Für diesen Brennpunkt menschlicher Begierden wurde seit früher Zeit eine Kulisse geschaffen und verdichtet. Sie besteht aus den weltweit bekannten Versatzstücken, wie sie aus den Verfilmungen verschiedener Werke Ludwig Thomas aus dem des vorigen Jahrhundert bekannt sind: Holzdielenböden, dunkle Wandvertäfelungen, Gewölbe, die gespreizten Krallen der Stuhlbeine, Maßkrüge, Tische in Ahorn, gespenstische Tierpräparate, paradierende Geweihe verschiedenster Wildarten sowie die fleischgewordene Erlösung in Form einer möglichst nicht zu dünnen weiblichen (oder auch männlichen) Bedienung in landesüblicher Tracht.
Durch die zweiflügelige klassizistische Tür des Gasthauses gelangt man zunächst in den breiten Hausplatz mit der traditionellen Gassenschänke, an der auch der alte Klingelzug nicht fehlt. Im Hintergrund führt eine zweiläufige Treppe mit Flachbalustergeländer aus der Zeit um 1730 zu den oberen Stockwerken; hier wohnt seit 1872 die heutige Eigentümerfamilie, die das Haus inzwischen in sechster Generation führt. Im Rückgebäude mit seinen massiv gewölbten Erdgeschossräumen befand sich bis 1936 die Brauerei, darüber bis 1971 die Mälzerei, bevor beide zum Stephansberg auf das Gelände des ehemaligen Sommerkellers der Brauerei ausgelagert wurden.
Doch wie so oft ist alles ganz anders. Das vermeintlich als Weinland bekannte Franken mit seinen Zentralorten Würzburg oder Iphofen ist weit mehr ein Dorado für Freunde des Gerstensaftes als man zunächst glauben möchte. Nicht nur die Anzahl an mittelständischen Brauereien ist im Norden Bayerns erklecklich, sondern auch der volkskundlich interessierte Hedonist wird auf der Suche nach authentisch überlieferten Wirtsräumen mehr als fündig.
Die 1794 errichtete Brauerei Schneider im mittelfränkischen Weißenburg steht exemplarisch für Orte mit ähnlicher Traditionsdichte in Mittelfranken. Der die Platzsituation an der Bachgasse beherrschende breitgelagerte Bau mit Eckeinfassungen und Sockelgeschoss in Sandstein steht in der Tradition einer Architektursprache, wie sie am Hof der Ansbacher Markgrafen mit großer Vorbildwirkung entwickelt worden war. Die symmetrischen gegliederten Fassaden mit hochformatigen Fenstern und zentralem Zugang prägen die Städte der Region und können als Herrschaftszeichen der damals vorherrschenden Gesellschaftsform gewertet werden. Doch der Ende des 18. Jahrhunderts als Tuchmacheranwesen errichtete Bau erhielt seine jetzige Prägung um 1890. In dieser Zeit wurde das Innere des Anwesens zum Inbegriff eines Wirtshauses. Dazu gehört der zentrale Gastraum mit Theke und seinen umlaufenden Eckbänken unter Säulenarkaden sowie das seitliche Kabinett mit Kreuzgratgewölbe. 1990 konnte mit der Freilegung der Bohlenbalkendecke im Hauptraum und der Restaurierung der bauzeitlichen Parkettböden ein wesentliches Element des Erscheinungsbildes um 1900 wiedergewonnen werden. Durch Künstler wie Gabriel von Seidl und Lorenz Gedon hatte sich ab 1886 eine Vorstellung an Ausstattungsvarianten herausgebildet, die eine Synthese von klassischen antiken Vorbil-dern und heimatlichen Motiven darstellten. Das Gegenprojekt zum Reichstag in Berlin, der Münchner Justizpalast, oder der Augustiner-Bräu in der Neuhauser Straße am selben Ort sind sprechende Vertreter dieser damals weit verbreiteten Kunstrichtung. Zu dieser Zeit erhielt auch das ehemalige Tuchmacherhaus in Weißenburg seine detailreiche Ausstattung. Sie vermittelt mit ihrer vorgespiegelten Gewachsenheit eine Wohnzimmer-Atmosphäre, die von den Hochglanzhüllen der gängigen Restaurantketten niemals erbracht werden kann. Hier verbindet sich die Kunstindustrie der Prinzregentenzeit mit der örtlichen Bautradition in unübertroffener Weise.
Florian Koch