Verfassung von 1818 Das Ende des Rheinbunds 1813, die fortschreitende bayerische Gesetzgebung in Verfassungs- und Verwaltungsfragen und die neue starke Stellung des Adels hatten die Konstitution von 1808 in wesentlichen Punkten bedeutungslos werden lassen, insbesondere nachdem die dort angekündigte Nationalrepräsentation niemals einberufen worden war und unter den veränderten Verhältnissen in der geplanten Form auch nicht einberufen werden konnte. Obwohl nun Montgelas an einer neuen Verfassung wenig Interesse zeigte, sah er sich doch durch die Verhandlungen auf dem Wiener Kongress (seit November 1814) vor die Notwendigkeit gestellt, die Verfassungsberatungen wieder aufnehmen zu lassen, da er, wie schon 1808, ein Verfassungsdiktat von dritter Seite befürchten musste. Ritter von Lang schildert die Situation wie folgt: "Die Nachrichten, welche man von Wien aus über die präliminaren Unterhandlungen zur Bundesverfassung erhielt und die ausgedehnten Rechte, welche nach den ersten Äußerungen des Enthusiasmus einiger norddeutscher Staaten den neuen Landesrepräsentationen zugeteilt werden sollten, waren die Veranlassung, in München so schleunig als möglich mit einer neuen Verfassung der bayerischen Lande voranzutreiben, damit man sich keinen besonderen Zumutungen und Aufforderungen von Seiten des Kongresses nach minder beliebten Grundsätzen aussetzen und vielmehr die offene Ausrede zur Hand haben möchte, man sei bereits mit einer solchen neuen Verhältnissen angepassten Konstitution versehen".
Der Sturz des Ministers am 2. Februar 1817 machte den Weg frei zu einer umfassenden Reform. Noch am gleichen Tag wurde eine Verordnung erlassen, die Verfassungscharakter hatte und in der auch die Revision der Konstitution von 1808 angekündigt wurde. Ihr Kernstück bildeten die Bestimmungen über den Staatsrat, der als eine Art Beamtenparlament über dem gesamten Staatsorganismus stehen sollte und damit ein wirksames Gegengewicht gegen ministerielle und monarchische Willkür bilden konnte. Er hatte das Recht, den Staatshaushalt (Generalfinanzetat) zu überprüfen. Die sich daran anknüpfende Rechenschaftspflicht der Minister (am Ende eines jeden Verwaltungsjahres) war der Beginn einer (vom König getrennten) Ministerverantwortlichkeit. In Artikel VII der Verordnung wurden die Nationalrepräsentation und die Kreisdeputationen der Konstitution von 1808 in einer neuen Variante, nämlich als regionaler "Landrat" präsentiert, der ein Vorbild im Departemental-Rat der Rheinpfalz (seit 1816 beim Königreich) hatte. Doch blieb auch dieser Artikel VII vorerst nur eine Absichtserklärung. Die Verfassungsberatungen sollten nach dem Willen des Königs wieder aufgenommen werden. Am 10. Mai 1817 erhielt der neuformierte Staatsrat als einen der "Gegenstände ersten Ranges, mit denen er sich zu beschäftigen" habe, den Auftrag zur Revision der Verfassung und der Edikte. Am 6. Juni wurde daraufhin ein Staatsratsausschuss für die Beratung der künftigen Verfassung ernannt. Auch aus anderen Gründen erschien der Erlass einer Verfassung als wünschenswert: Das am 5. Juni 1817 mit dem Hl. Stuhl abgeschlossene Konkordat war am 24. Oktober von König Max I. Joseph ratifiziert worden. In Artikel 1 dieses Konkordats wurde die Erhaltung der katholischen Religion in Bayern zugesagt, und zwar "unversehrt mit jenen Rechten und Prärogativen, welche sie nach göttlicher Anordnung und den kanonischen Satzungen zu genießen hat." Diese Gewährleistung stieß auf heftigste Kritik. Man befürchtete eine ungerechtfertigte Preisgabe landesherrlicher Rechte. Darüber hinaus fühlte sich der protestantische Bevölkerungsteil benachteiligt. Im Rahmen eines Verfassungswerkes konnte man hoffen, den verlorenen Boden wiedergutzumachen. Anfang 1818 zwang dann auch die Finanzlage zu einer Beschleunigung der Verfassungsberatungen. Mit Reskript vom 16. Februar 1818 befahl Max I. Joseph, das Gemeindeedikt fertig zu stellen und dann "sogleich die unserem Königreiche zu gebende Verfassung in allen ihren Teilen ohne Verzug in Beratung" zu nehmen. Für die vorbereitenden Arbeiten wurden Ministerialkonferenzen - mit Staatsministern, Feldmarschall, Staatsratspräsidenten und den Generaldirektoren - angeordnet. Der König kam damit auch Kronprinz Ludwig entgegen, der nach wie vor zu den eifrigen Befürwortern einer Verfassung gehörte. Eilig hatte es auch Finanzminister Lerchenfeld, für den eine Ständeversammlung, die den Kredit sicherte, den einzig noch gangbaren Weg zur Abwendung des Staatsbankrotts bildete. Die Hauptarbeit an der dann ziemlich schnell fertiggestellten Verfassung
leistete Friedrich von Zentner. Er gab der Verfassung ein für die
damalige Zeit ziemlich fortschrittliches Gesicht. "Manchen bangt
wegen der Folgen", schreibt er in einem Brief und begründet
seine Arbeit wie folgt: "Der Geist der Zeit, man mag das Ding nennen,
wie man will, muss in gewissen Regierungs-Gegenständen befriedigt
werden; es ist eine natürliche Folge der vorhergegangenen Revolutionen,
die zwar nicht mehr gewalttätig, doch aber moralisch fortwirken." Die ergänzenden Edikte, die anders als 1808 jetzt zusammen mit der
Verfassung veröffentlicht wurden, geben dem Verfassungswerk den Charakter
einer Kodifikation des geltenden Staats- und Verwaltungsrechts. Die meisten
dieser Edikte gehen auf ältere Bestimmungen zurück. In der fachkundigen Öffentlichkeit, besonders natürlich in liberalen Kreisen, wurde die neue Verfassung sehr positiv aufgenommen. Anselm von Feuerbach, der große Jurist, schreibt: "Es ist in sehr vieler Beziehung jetzt eine große Freude Bayern anzugehören. Man sollte nicht glauben, was ein großes Königswort, unsere Verfassung, in kurzer Zeit für Dinge tun kann. Erst mit dieser Verfassung hat sich unser König Ansbach und Bayreuth, Würzburg, Bamberg usw. erobert." Weniger freundlich war das Echo bei den führenden Mitgliedern des Deutschen Bundes, bei Österreich und Preußen. Dort war man über die schnelle Verfassunggebung in Bayern nicht sehr glücklich. Metternich sprach von "rein demagogischen Verfassungen im südlichen Deutschland". Entscheidendes Kernstück der Verfassung bildete die Bestimmung über
die Ständeversammlung und deren Wirkungskreis (Titel VI und VIII
sowie X. Edikt). Alleen Beteiligten war klar, was eine Ständeversammlung
bedeuten konnte: Behinderung der Regierungsarbeit oder gar offene Opposition.
Es galt, den möglichen Schaden klein zu halten. Im Vorspruch der
Verfassung wurde daher zunächst klargestellt, dass die Volksvertretung
berufen sei, "um in öffentlichen Versammlungen die Weisheit
der Beratung zu verstärken, ohne die Kraft der Regierung zu schwächen". Am 4. Februar 1819 wurde die Ständeversammlung mit einer Thronrede des Königs eröffnet. Darin stellte er klar, daß die Verfassung allein auf seinem freien Willen beruhte: "Ich genieße heute den erhebenden Moment, in der Mitte von Ständen zu sein, welche das freie Wort meiner festen Entschlüsse hervorgerufen und eine vertrauensvolle Ernennung und Wahl um meinen Thron gestellt hat..." . Sein Wunsch, daß die Stände "redliche und unbefangene" Gehilfen der Regierung sein sollten, hat sich in der Folgezeit jedoch nicht erfüllt. Schon bald wurde die Kammer der Abgeordneten zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen. Man stellte Forderungen, die weit über die realen politischen Möglichkeiten hinausgingen. In einem Reskript an den Staatsrat vom 13. März 1819 befahl der König zu prüfen, "ob der bisherige Gang der Verhandlungen in der Kammer der Abgeordneten eine solche Tendenz zur Überschreitung ihres Wirkungskreises verraten oder solche verfassungswidrige Beschlüsse gezeitigt habe, daß ein Einschreiten gegen die Kammer geboten sei. " Mit dem Vorwurf, möglicherweise verfassungswidrig gehandelt zu haben, taucht eine Argumentation auf, die bis heute zum Kernbestand politischer Auseinandersetzungen gehört. Der König war jedenfalls derart beunruhigt, daß er (und sein Minister Graf Alois von Rechberg) erwog, die Verfassung wieder aufzuheben. Max I. Joseph war überzeugt, daß in er zweiten Kammer ein revolutionäres Komplott gegen ihn gesponnen würde. Freilich nahm er auch die Reden mancher Abgeordneten allzu wörtlich. Auf beiden Seiten mußte man erst die Spielregeln des Parlamentarismus lernen. Auch die zahlreichen, oft sehr polemischen Flugschriften taten das Ihre. "Man hört überall nur von Verschwörung reden. Es ist wahr, daß was ich gehört und gelesen habe, einem die Haare in die Höhe treibt. Von Basel bis zum Baltikum gibt es nur ein Bild..."
An einer Weiterentwicklung der Verfassung war unter Max I. Joseph angesichts dieser kontroversen Anschauungen nicht zu denken. So war es dann ganz im Sinn des Königs, als in Artikel 57 der Wiener Schlußakte von 1820 ausdrücklich betont wurde, daß das Staatsoberhaupt "nur in Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden" dürfe, im übrigen aber der Souverän im Staate bleiben müsse. König Ludwig I. (1825-1848), in seiner Kronprinzenzeit Schrittmacher der Verfassungsbewegung, erwies sich als Regent nach liberalen Anfängen als unbeugsamer Autokrat. Als er am 20. März 1848 abdankte, konnte er zwar in seinem Abdankungsschreiben von sich behaupten, daß er getreu der Verfassung regiert habe, für deren Weiterentwicklung hatte er indes nichts getan. Diese Aufgabe übernahmen unter dem Druck der politischen Umstände sein Sohn und Nachfolger König Maximilian II. (1848-1864) und dessen "Märzministerium". Das Landtagswahlgesetz vom 4. Juni 1848 hob die § § 7-12 des Titels VI der Verfassungsurkunde auf. Die Kammer der Abgeordneten wurde nun zu einer wirklichen Volksvertretung (Landtag). Das Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit vom 4. Juni 1848 band jede Regierungshandlung des Königs an die ministerielle Gegenzeichnung. Das Gesetz über die "Aufhebung der standes- und gutsherrlichen Gerichtsbarkeit, dann die Aufhebung, Fixierung und Ablösung von Grundlasten" vom gleichen Tag beseitigte Rechtsverhältnisse, die schon in der Ottonischen Handveste von 1311 beschrieben sind (Niedergerichtsbarkeit des Adels). Gerade die Beibehaltung der sogenannten Patrimonialgerichtsbarkeit war als ein Hauptmangel des Verfassungswerkes von 1818 kritisiert worden. Erstmals wurden 1848 auch die Grundrechte zum Thema der politischen Auseinandersetzung. Man stritt sich darüber, ob die von der Frankfurter Nationalversammlung verkündeten Grundrechte in Bayern publiziert und in Kraft gesetzt werden sollten. In der ersten Sitzung der nach den neuen Wahlgrundsätzen gewählten Kammer der Abgeordneten am 30. Januar 1849 verneinte der Innenminister die automatische Geltung der Beschlüsse des Frankfurter Parlaments in Bayern. Dann behauptete er, daß materiell zwischen den in Bayern bereits geltenden und den von der Nationalversammlung verkündeten Grundrechten kein Unterschied bestehen würde. Das war allerdings unrichtig, da beispielsweise die in § 133 der Reichsverfassung von 1848 gewährleistete Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in Bayern wegen der sehr restriktiven Ansässigmachungsgesetze keineswegs verwirklicht war. Auch der Rechtsstaat gewinnt in der politischen Diskussion von 1848 die uns heute bekannten Konturen. Als Ideal wird er dem Polizeistaat, der willkürlich handelnden, durch Gesetze nicht gebundenen Verwaltung gegenübergestellt. Typisch für die damalige Interpretation des Rechtsstaatsbegriffs sind die Ausführungen im Programm des demokratischen Vereins in München, die vor der Landtagswahl 1848 veröffentlicht wurden: "Die Beamtenwillkür in ihrer enggegliederten und weitverzweigten Stufenleiter der Über- und Unterordnung muß dem frischen Geiste volkstümlicher Einrichtungen weichen, die polizeiliche Bevormundung einer angemessenen Selbstverwaltung der Körperschaft Platz machen, kurz, der Polizeistaat in einen Rechtsstaat umgewandelt werden, an der Spitze ein in Wahrheit konstitutionelles Ministerium von staatsmännischer Charakteristik..." Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 sind weder das Thema Rechtsstaat noch das Thema Grundrechte für die Verfassungsdiskussion weiter von Bedeutung. Entscheidend waren jetzt die Verfassungsänderungen, die durch die außenpolitischen Ereignisse erzwungen wurden. Mit dem Beitritt Bayerns zum Deutschen Reich und mit der Reichsverfassung von 1871 verloren wichtige Teile der bayerischen Verfassung ihre Wirksamkeit. Ab jetzt galt der Satz "Reichsrecht bricht Landesrecht". In der Innenpolitik bestimmten die Gegensätze zwischen Regierung und Landtag die politische Szene. 1881 wurde die geheime, 1906 die direkte Wahl der Abgeordneten gesetzlich verankert, aber erst 1912 wurden durch die Berufung des Frhr. von Hertling zum Ministerpräsidenten die Mehrheitsverhältnisse im Landtag berücksichtigt. Als König Ludwig III. (1912-1918) am 2. November 1918 anordnete, daß in Zukunft die Besetzung der Ministerien nur im Benehmen mit den beiden Kammern des Landtags erfolgen sollte, war es für eine Reform der Verfassung zu spät. Der Sturz der Monarchie war nur noch eine Frage der Zeit. Die Verfassung hatte sich nach hundert Jahren überlebt. (Auszug aus Reinhard Heydenreuter, Bayerische Verfassungstradition) |
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